Weite Felder, mittelalterliche Dörfer, eine Festung mit Apokalypse-Teppich – und kein Mensch drängelt. In der westfranzösischen Region Pays de la Loire begegnet man einem Frankreich, das seine Schätze still und leise offenbart. Eine Reise mit dem Wohnmobil durch ein unterschätztes Stück Europa.

Der Weg nach Westen zieht sich in die Weite, wie mit dem Lineal gezogen. Links wiegt sich goldener Weizen im Wind, rechts schieben sich Hecken und Wiesen ins Bild. Der Camper rollt sanft über die Kuppen des asphaltierten Bands, das sich irgendwo am Horizont verliert. Kaum Verkehr, keine Schilderflut – nur der Blick ins offene Land. So beginnt unser Roadtrip durch die Pays de la Loire, eine Region, die viele auf dem Weg in die westfranzösische Bretagne achtlos durchqueren – und dabei das Beste verpassen.
Pays de la Loire – dieser Name weckt kaum Assoziationen. Die großen Träume verbinden sich anderswo: mit Paris, dem Eiffelturm, der Côte d’Azur oder den Lavendelfeldern der Provence. Die Loire? Kennt man höchstens wegen ihrer Schlösser – doch auch die liegen meist weiter östlich. Dabei ist der Westen der Region eine Schatzkammer voller Entdeckungen: überraschend, geschichtsträchtig, charmant unaufgeregt.
Die Region erstreckt sich südlich der Bretagne – vom Atlantik bis tief ins Landesinnere. »Unberührte Natur, geschichtsträchtige Orte und die Herzlichkeit unserer regionalen Produzenten und Kunsthandwerker laden immer wieder aufs Neue zum Entdecken ein«, betont Christelle Morançais, Präsidentin der Region Pays de la Loire. Am bekanntesten ist sicherlich das Loire-Tal mit seinen prachtvollen Schlössern – 75 Kilometer davon zählen zum UNESCO- Weltkulturerbe. Doch unsere Reise richtet den Blick auf weniger bekannte, dafür ebenso reizvolle Wasserwege: etwa die Flüsse Mayenne, Sarthe und Maine. Insgesamt durchziehen 375 Kilometer schiffbare Flüsse die Region. Hinzu kommen rund 3.400 Kilometer ausgeschilderte Radwege sowie 215 Kilometer Atlantikküste – eine Einladung an alle, die Frankreich aktiv und naturnah erleben möchten.
Für die deutsche Reisegruppe beginnt das Abenteuer in Nantes. Nach einer technischen Einweisung geht es los: Wir werden auf verschiedene Wohnmobile verteilt – jeweils zwei Personen pro Fahrzeug. Die Flotte umfasst Modelle unterschiedlicher Größe und Ausstattung, vom kompakten Camper bis zum komfortablen Teilintegrierten. Die erste Etappe führt rund 115 Kilometer nordöstlich nach Craon in der Mayenne. Ziel ist das eindrucksvolle Château de Craon, ein Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, das wegen seiner Architektur oft als »Klein Versailles « bezeichnet wird. Umgeben von einem weitläufigen Landschaftspark ist das Anwesen bis heute in Familienbesitz. »Das Haus ist kein Museum, es lebt«, sagt Bertrand de Guébriant, der aktuelle Besitzer. Ein Teil des Schlosses wird als Gästehaus betrieben, Frühstück inklusive. Im prunkvollen Speisesaal erhalten wir eine erste Kostprobe lokaler Spezialitäten: Die Ferme du Pressoir, ein regionaler Familienbetrieb, präsentiert Apfelsaft, Cidre und den Apéritif Pommeau – eine Mischung aus Apfelsaft und Calvados, die traditionell vor dem Essen gereicht wird. Übernachtet wird auf dem Campingplatz Le Camping du Parc in Château-Gontier. Der Platz liegt ruhig unter Bäumen direkt am Ufer der Mayenne – ein entspannter Ausklang des ersten Reisetags.

Kekse, Kunst und Kirchenfenster
Die Region Sarthe, in der Sablé liegt, offenbart am nächsten Morgen schnell ihre Vielseitigkeit. Nur circa 20 Kilometer weiter stößt man auf das Städtchen Malicorne-sur-Sarthe – bekannt für feinstes Steingut. In der Faïencerie d’Art, die bereits 1924 gegründet wurde, arbeiten Kunsthandwerkerinnen und -handwerker bis heute traditionell. Man darf zusehen, wie Porzellanmalerinnen mit ruhiger Hand ihre feinen Muster auf die Teller bringen. Wir halten fast den Atem an, so still ist es in der Werkstatt. Kunst braucht Konzentration.
Und dann ist da noch das kulinarische Erbe: La Sablésienne, eine Keksfabrik in Sablé-sur-Sarthe, produziert seit dem 17. Jahrhundert Buttergebäck. Ursprünglich als Seefahrerproviant gedacht, gehören die feinen »Sablés« heute zu Frankreichs Gebäckklassikern. Wer will, deckt sich direkt vor Ort mit einer Blechdose voller Nostalgie ein.

Ein kurzer Abstecher führt uns ins pittoreske Sainte-Suzanne-et-Chammes, das nicht umsonst »Perle des Maine« genannt wird. Das Dorf gehört zu den »plus beaux villages de France«, den offiziell schönsten Orten des Landes. Auf einem Felsvorsprung, rund 70 Meter über dem Tal, thront das Renaissance-Schloss. Ein Panoramaweg verläuft entlang der Festungsmauern, während unten in der Crêperie »La Perle du Maine« frische Galettes dampfen. Weniger bekannt, aber ebenso eindrucksvoll: das Château de Dobert in Avoise. Seit über 500 Jahren in Familienbesitz, öffnet es zu bestimmten Zeiten für Besucher. Die Führung ist persönlich – keine PR-Show, sondern eine Begegnung mit Geschichte. Die Eigentümer erzählen Anekdoten aus Kindertagen, zeigen Fotos, Erinnerungsstücke, versteckte Winkel. Frankreich zum Anfassen.
Stadt mit dem großen Teppich
Ein Highlight der Reise erwartet uns am darauffolgenden Tag in Angers. Hier vereinen sich die Flüsse Sarthe und Mayenne zur Maine, die schließlich in die Loire mündet. Die Region ist seit der Steinzeit besiedelt, und die Altstadt zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Die Stadt, die oft im Schatten ihrer Loire-Schwestern Tours oder Orléans steht, beherbergt einen der bedeutendsten Wandteppiche Europas: die Tapisserie de l’Apocalypse. 103 Meter lang, vollständig aus Wolle gewebt, zeigt sie in sechs Teilen die Johannes-Offenbarung – ein mittelalterliches Meisterwerk. Um es zu schützen, wird es im Schloss von Angers hinter dicken Mauern aufbewahrt, die teils aus dunklem Schiefer, teils aus hellem Kalkstein bestehen. Davor: 17 Türme, hoch aufragend wie in einer Märchenillustration.

Angers ist aber nicht nur Museum, sondern auch Heimat des legendären Cointreau-Likörs. In der originalen Brennerei wird bis heute destilliert – jährlich 15 Millionen Liter. Beim Besuch lernen wir: Die Mischung aus süßen und bitteren Orangenschalen ist bis heute ein wohlgehütetes Geheimnis. Margarita? Cosmopolitan? Beide Drinks wären ohne Cointreau nur halb so berühmt.
Am Ende das Meer
Als sich die Straßen wieder weiten, ist der Atlantik nicht mehr fern. Ab Saint-Florent-le-Vieil folgen wir der Landstraße D751 Richtung Küste – vorbei an Nantes bis zur Jadeküste bei Pornic. Ob Stadtbesichtigung, Fahrradtour oder Kajakausflug auf Fluss und Meer – hier gibt es viel zu entdecken. Besonders lohnen sich der Hafen, die Altstadt und die charakteristischen Fischerhütten auf Stelzen an der idyllischen Jadeküste. In Pornic endet unsere Reise – am Meer, mit Sand zwischen den Zehen und salziger Luft in der Nase.

Die Hafenstadt zeigt sich lebendig und entspannt zugleich. Fischerboote liegen bei Ebbe im Schlick, auf dem Kutter »Fleur des Ondes« werden frische Austern serviert. Am Ufer reihen sich ehemalige Casinos aneinander, eines davon beherbergt heute das Restaurant Marius. Von der Dachterrasse schweift der Blick über Masten und Möwen.
Und da ist sie wieder – diese überraschende Schönheit, die sich durch unsere komplette Reise zieht. Keine großen Inszenierungen, keine Instagram-Attraktionen. Stattdessen viele stille Momente, authentische Begegnungen und echtes Kunsthandwerk.
Die Rückfahrt fällt schwer. Die Hügellandschaft fliegt am Fenster vorbei, in der Luft liegt ein Hauch von Salz, auf der Haut die Erinnerung an Sonne. Ich werde sie vermissen, diese Region, die alles hat – außer Eile.



