Revolution auf 1.444 Metern: Das Octopus Gravel-Konzept bricht mit den herkömmlichen Routentraditionen. Oberhalb von Andermatt öffnen sich für Gravelbiker geheime Wege. Das Dead-End-Format schafft Magie: Jeder Gipfel gleicht einem Triumph, jede Rückkehr wird zum Fest. Das Herz der Alpen schlägt auf Schotter!

Im Schweizer Kanton Uri greifen acht Tentakel in alle Himmelsrichtungen in die Berge. Sie umschlingen Gipfel, Seen und Wiesen. Andermatt bildet den Kopf dieses Oktopus – ein Bergdorf auf 1.444 Metern Höhe. Gotthard, Furka, Susten, Oberalp – vier Namen, die sich in die DNA von Rennradfahrern eingebrannt haben. Pässefans folgen seit Jahren dem Ruf der Berge und pilgern in die Schweizer Alpen. Doch auch immer mehr Gravelbiker entdecken hier ihr Eldorado. Denn zwischen den Passstraßen verstecken sich coole Schotterwege. Das Octopus Gravel-Event verwandelt die Naturkulisse in ein Abenteuer.

Kanton Uri
Der Kanton Uri im Zentrum der Schweiz ist stark durch seine Gebirgslandschaft geprägt. Rund 80 Prozent der Fläche liegen über 1.000 Meter über Meer. Das Gotthardmassiv nimmt dabei eine zentrale Rolle ein und bildet eine wichtige Wasserscheide. Die Reuss durchzieht das Haupttal von Süden nach Norden und mündet bei Flüelen in den Urnersee, den südlichsten Teil des Vierwaldstättersees. Neben dem Talraum bestimmen zahlreiche Seitentäler, Gletscher, Bergseen und ausgedehnte Alpweiden das Landschaftsbild. Charakteristisch ist der Wechsel von den vergleichsweise sanften Uferbereichen am See zu den steilen und hochalpinen Regionen im Süden und Osten des Kantons.
Vermigelhütte (9,4 km, 620 hm)
Freitag, Ende Juni. Zusammen mit meinem Kumpel Daniel bin ich für das Event Octopus Gravel angemeldet. Der feuerrote Zug der Schöllenenbahn quietscht pünktlich um 14:06 Uhr in den Bahnhof von Andermatt. Die Anreise per Bahn ermöglicht stressfreies Ankommen. Dazu stimmen die Berge unterwegs auf das kommende Wochenende ein.
30 Minuten später empfängt uns Heidi Farr mit ihrem Bike. Sie arbeitet für Andermatt Swiss Alps und möchte uns einen der Wegarme von Octopus Gravel zeigen. Die Wahl fällt auf die Strecke zur Vermigelhütte. Unser Einrollen für den morgigen Raceday beginnt im historischen Kern von Andermatt. Heidi startet auf Asphalt bergauf. Zwei Kehren oberhalb des Dorfs schwenkt sie auf Schotter ein. Das Unteralptal öffnet sich wie ein Amphitheater. Regelmäßig bleiben wir stehen, für Fotos oder um die Kulisse zu betrachten. Der Weg steigt moderat durch Blumenwiesen an. Links rauscht die Unteralpreuss zwischen Felsbrocken hindurch.
Zu beiden Seiten weidet Braunvieh auf den Hängen. Bei 2.042 Metern thront die Vermigelhütte unterhalb des Gemsstocks (2.961 m). Davor flattert die Schweizer Fahne im Bergwind. Wir rollen zurück nach Andermatt. Dort heißt es: duschen und ab zur Nudelparty samt Abendprogramm.
Rossmettlen (8,6 km, 680 hm)
Samstag, 8:30 Uhr, strahlender Sonnenschein. 750 Radler stehen wie Rennpferde am Start. Die Fahrer checken ihre GPS-Geräte, füllen Trinkflaschen, diskutieren Taktiken für den Marathon-Tag. Aus den Lautsprechern ertönt Partymusik. Nervosität mischt sich mit Vorfreude. Acht Mal hinauf, acht Mal hinunter – die Reihenfolge dieser alpinen Sackgassen bestimmt jeder Fahrer individuell. Strategie, Tagesform und persönliche Vorlieben entscheiden über die Route. Das Maximum: 155 Kilometer und 4.450 Höhenmeter an einem epischen Graveltag.
Auf drei Wegästen wird die Zeit genommen: Tremola, Vermigelhütte und Rossmettlen. Mit Letzterem beginnen die meisten Fahrer, so auch wir. Dieser Weg gehört der Schweizer Armee und darf nur bis zwölf Uhr befahren werden. Zwei Kilometer rollen wir die Gotthardstraße hinab. Ein Ordner mahnt zum Langsamfahren und winkt mit einem Wimpel in einen Seitenweg. Dieser steigt sogleich steil an. Wie eine Viehherde beim Almauftrieb schnaufen wir bergan. Von 1.430 Meter bis auf 2.090 Meter. Erst geht es in Serpentinen durch schroffe Felsriegel, dann zieht sich der Weg um eine Bergschulter mit Panorama über das Tal.

Octopus Gravel hat acht Arme. Jeder Fahrer hat also seinen persönlichen Gegner. Das Tier versucht, einen in die Tiefe zu ziehen, man selbst strebt in die Höhe. Die Tentakel Nummer eins ist gemeistert. Am Ende des Weges warten an einer Verpflegungsstation Essen, Trinken und ein Stempel auf die Fahrer. Wir reihen uns in die Schlange ein. Während sich der Puls beruhigt, bleibt Zeit zum Umherschauen. Gegenüber erhebt sich das Gotthardmassiv. Dorthin geht es als Nächstes.
Lago di Lucendro (3,5 km, 110 hm)
Wir bremsen uns den steilen Weg hinab ins Tal und ziehen Richtung Süden. Dort lauern vier Oktopusfangarme auf die Biker. Den Auftakt zum Höhenmetersammeln bildet der Lago di Lucendro. Die Piste klebt an einem Steilhang und zieht sich durch Tunnel bergan. Ringsum ragen die Berge der Zentralalpen auf. Der türkisfarbene Speichersee ruht wie ein Juwel zwischen den Gipfeln. Gelbe Butterblumen und lila Glockenblumen tupfen die Landschaft. Ein Bergbach rauscht unter der Brücke hindurch. Wir sind begeistert. Das tolle an diesem Event ist, dass ständig gut gelaunte Fahrer entgegenkommen.
Airolo Viewpoint, Lago della Sella, Oberstafel
Die Tentakel vier und fünf haben wir dem Oktopus schnell abgetrennt. Der Weg »Airolo Viewpoint« bringt es auf 4,6 Kilometer und 280 Höhenmeter. Und die benachbarte Strecke »Lago della Sella« auf 3,6 Kilometer und 160 Höhenmeter. Erst genießen wir die Tiefblicke hinab ins Valle Leventina im Tessin, danach jagen wir die Bikes durch mehrere Bäche, die den Doppelspurweg kreuzen.
Dann kommt »Oberstafel«. Diesen Weg muss man sich hart erarbeiten: 17,4 Kilometer und 780 Höhenmeter. Da wir ins Urserental zurückkehren, drückt gegen 15 Uhr die Hitze. Auf der Anfahrt zur nächsten Hauptsteigung bilden sich kleine Radlergruppen.
Am Bahnhof Realp startet der Angriff auf die Strecke Oberstafel. Asphalt trägt uns bergan, bis Schotter übernimmt. Links donnert die Witenwasserenreuss zu Tal. Die Bergkulisse der Zentralalpen türmt sich ringsum auf – Gipfel über 3.000 Meter grüßen von allen Seiten. Der Weg zieht sich schier endlos bergan. Meine Wasserflasche ist leer und ich habe Hunger. Pedalumdrehung für Pedalumdrehung schnaufen wir höher. Auch die anderen Fahrer kämpfen, manche schieben. Der Oktopus lässt niemals locker! Schweiß rinnt über die Stirn, die Beine brennen. Doch die alpine Kulisse entschädigt. Irgendwann ist die Verpflegungsstation erreicht. Jetzt erst mal ordentlich Kalorien tanken für den nächsten Anstieg. Wir rollen zurück nach Andermatt. Das Tagesfinale wartet im Osten. Auch dort lauern zwei Tentakel.

Vom Dorf zum Luxusort
Von den Walsern zur Weltbühne: Andermatt blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Im 13. Jahrhundert siedelten sich die ersten Walser im Urserental an. 1799 tobte hier die Schlacht zwischen General Suworow und Napoleons Truppen. Mit dem Bau der Gotthardstraße 1830 erlebte der Ort einen ersten Aufschwung. 1882 verlagerte der Gotthard-Eisenbahntunnel den Verkehr weg vom Pass.
Der ägyptische Milliardär Samih Sawiris verwandelte Andermatt ab 2005 in eine Luxusdestination. 1,67 Milliarden Franken flossen in das Projekt Andermatt Reuß. 2013 öffnete The Chedi Andermatt als eines der besten Hotels der Alpen – ein Fünf-Sterne-Deluxe-Haus mit berühmtem Spa. 2018 folgte das Radisson Blu Hotel Reußen mit 25-Meter-Pool, Bike-Room und Spa-Bereich. Das dritte Hotel, The Alpinist Andermatt, entsteht derzeit und öffnet im Winter 2027. Dazu locken die Andermatt Alpine Apartments für längere Aufenthalte.
Neben den Luxushotels bietet der Bergort weitere Unterkunftsoptionen: gemütliche Pensionen im Dorfkern, Ferienwohnungen und den Campingplatz Andermatt. Bike-freundliche Gastgeber sorgen für sichere Abstellplätze und Reparaturservices.
Gütsch (14,5 km, 960 hm)
Daniel und ich steuern in Andermatt den Bahnhof an. Dort hat am Samstagnachmittag ein Supermarkt geöffnet. Ausgerüstet mit Softdrinks und Schokolade geht es wieder bergan. Die Anstiege, die Fotos und das Terrain fordern ihren Tribut – wir schaffen nur sieben der acht Wegarme. Immerhin haben wir gestern schon die Tour zur Vermigelhütte kennengelernt. Also gebührt dem Berg »Gütsch« die letzte Ehre und dieser fordert uns nochmals richtig heraus.
Der Schotterweg windet sich bergan wie eine steinerne Schlange. Mit jedem Meter wachsen die Panoramen. Die Lepontinischen Alpen türmen sich majestätisch auf. Was uns wundert: Es sind noch mehrere Fahrer unterwegs! Die Müdigkeit nagt am Körper, trotzdem kommen wir voran. Daniel ist stärker – ich lasse ihn ein Stück vorausfahren.
Ein Murmeltier tapst gemächlich über den Weg. Bei einem Fotostopp überholt mich ein schlaksiger Radler mit federnden Bewegungen. Entgegenkommende Graveler mahnen: »Der Checkpoint wird gleich abgebaut!« Stempel hin oder her – ich möchte hier so viel Strecke wie möglich miterleben. Also weiter, wenn auch langsam. Die Räder knirschen über den Schotter.
Minuten später kommt mir ein Jeep entgegen. Die Octopus Gravel-Crew drückt doch noch den siebten Stempel in die Karte und füllt meine Radflasche mit Wasser. Ich bedanke mich und schnaufe die letzten schweißtreibenden Meter zu Daniel hinauf. Er wartet bereits mit angezogener Windjacke. Auf dem Gütsch gibt es eine historische Festung aus dem Zweiten Weltkrieg, eine Wetterstation und eine Gondel sowie Restaurants.
Auf der rasanten Abfahrt umschließen die langen Schatten das Urserental. Oben erstrahlen die Gipfel im goldenen Licht der Abendsonne. Während die Bikes zu Tal jagen, breitet sich in mir ein Hochgefühl aus. Was für ein Tag! Andermatt mutiert zum Kopf eines steinigen Monsters. Acht Tentakel greifen nach den Alpengipfeln wie Fangarme. Das Dead-End-Format ergänzt die klassischen Streckenführungen. Die Fahrer wählen Abenteuer à la carte zwischen den namhaften Passstraßen. Verpflegungsstationen auf Gipfeln liefern Energie für die Schotterwege. Drei Zeitfahren injizieren ordentlich Adrenalin. 25 tapfere Kämpfer haben alle acht Arme des Oktopus bezwungen, wir immerhin sieben. Der Event hat viel Spaß gemacht. Das Herz der Alpen schlägt auf Schotter!
Weitere Infos
▪ CHARAKTER
Die Region um Andermatt bietet Radlern tolle Alpenpässe und viele ruhige Schotterwege. Beim Event Octopus Gravel lernt man Letztere kennen. Fahrer wählen Abenteuer à la carte. 155 Kilometer und 4.450 Höhenmeter bleiben die Obergrenze. Drei Zeitfahren injizieren Wettkampf-Adrenalin. Verpflegungsstationen auf Gipfeln liefern neue Energie für die Schotterwege und Passagen auf Asphalt. Auf der spektakulär angelegten Tremola rattern die Räder über Kopfsteinpflaster.
▪ EVENT OCTOPUS GRAVEL 2025
Freitag: Nummernausgabe, Gravel-Talk, Gravel-Filmeabend
Samstag: Start Octopus Gravel um 8:30 Uhr, Cut-off-Zeit um 18 Uhr, Siegerehrung und Party um 20 Uhr
Sonntag: Hang-over Ride
▪ ANREISE
Wo sich drei Täler treffen, wartet Andermatt auf Reisende. Die SBB bringt Urlauber bequem ans Ziel. Der berühmte Glacier Express macht dreimal täglich in dem Dorf Halt. FlixBus fährt bis Chur, von dort geht es mit dem Zug weiter. Regional verkehren Postautos durch die Passlandschaft.
▪ BESTE ZEIT
Andermatt bietet von Juni bis September gute Verhältnisse für Radausflüge mit langen Tageslichtstunden. Die alpine Lage sorgt für frische Morgentemperaturen auch im Hochsommer. Das Octopus Gravel fand 2025 Ende Juni statt.
Auch 2026 findet wieder ein OCTOPUS Gravel in Andermatt statt.
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